Aus: Heinz J. Kersting (Hg.) (1999): Der Zirkel des Talos. Gespräche mit systemischen TherapeutInnen. Aachen (Wiss. Verlag des Instituts für Beratung und Supervision), S. 145 – 162.
„Ich sitze nie auf der Tribüne, sondern spiele immer mit“
Ein Gespräch mit Fritz B. Simon
Heinz Kersting: Herr Simon, Sie sind Arzt, Psychiater, Therapeut, genauer Psychotherapeut und arbeiten als wissenschaftlicher Autor. Gerade ist ein wichtiges Buch von Ihnen „Meine Psychose, mein Fahrrad und ich“ ins Englische übersetzt worden.
Sie beraten Manager, Sie sind als Organisationsentwickler tätig und Sie sind selbst hier in Heidelberg Manager eines Fortbildungsunternehmens. Sie organisieren fast jedes Jahr mit Ihren Kollegen große, internationale Kongresse. Und in all diesen Rollen leisten Sie Aufseheneregendes. Ich möchte Sie nicht danach fragen, wie Sie das alles schaffen, sondern ich möchte Sie fragen, ob diese vielen Rollen und die damit verbundenen Leistungen auch etwas mit der systemischen Theorie zu tun haben?
Fritz B. Simon: Wenn Sie das so allgemein formulieren, dann glaube ich schon, daß es etwas damit zu tun hat. Allerdings heißt „zu tun haben mit“ nicht, daß eine direkte Kausalität zwischen dem einen und dem anderen besteht, sondern daß sich die Dinge gegenseitig beeinflussen. Wenn man systemisch denkt, dann analysiert man Situationen anders. Man verhält sich anders und trifft andere Entscheidungen. Man betrachtet dann z.B. einen Kongreß anders, als das traditionellerweise gemacht wird. Üblicherweise Weise wird ein Kongreß als ein Ort und eine Zeit betrachtet , wo Leute zusammenkommen und über wichtige inhaltliche Fragen sprechen, so, als würden sie am Telefon miteinander reden.
Doch das ist es sicherlich nicht. Ein Kongreß ist eine Intervention in einem professionellen, fachlichen Feld. Man schafft ein bedeutungsvolles Ereignis – oder man schaftt es eben nicht. Auf jeden Fall ist es eine Intervention in ein soziales System. Wenn man das so sieht, dann wird man einen Kongreß anders planen, als wenn man denkt, es gehe nur darum, daß Leute ihre Paper austauschen. Ich halte das für ein Beispiel dafür, daß systemisches Denken weitreichende Konsequenzen auf der Handlungsebene haben kann.
Was Sie eben geschildert haben, klingt für einen guten Bürger, der an die normale Trennung von Disziplinen gewöhnt ist, ziemlich bunt. Und bunte Hunde werden ja etwas im allgemeinen mit sehr gemischten Gefühlen betrachtet.
Heinz Kersting: Hans Dampf…
Fritz B. Simon: „Hans Dampf in allen Gassen:“ Das hat immer etwas Unseriöses für denjenigen, der an die klare Trennung der Disziplinen gewöhnt ist. Aus systemischer Sicht ist es jedoch ganz logisch, daß man nicht allein die Familie anschaut, sondern auch Institutionen und Organisationen , wenn man sich mit sozialen Systemen beschäftigt,.
Und dann ist ein Klinikleiter eben ein Manager – leider in der Regel ein lausiger. Kliniken sind Hightech-Organisationen, häufig mit einem mittelalterlichen Management.
Im Zusammenhang dieser verschiedenen Felder liegt eine innere Logik. Wissenschaft und Theorie sind dann nicht etwas, was getrennt von der Praxis existiert, sondern etwas, das nötig ist, um eine anständige Praxis zu betreiben. Sie liefern die Reflexion dessen, was man tut, und die Reflexion der Rückwirkungen der eigenen Aktivitäten auf den Gegenstandsbereich, mit dem man sich beschäftigt. Das hat alles sehr viel mit Systemischem zu tun. Insofern glaube ich, ist das, was ich tue, schlicht und einfach logisch konsistent.
Heinz Kersting: In zahlreichen Aufsätzen und Büchern, berufen Sie sich immer wieder auf fünf Wissenschaftler aus unterschiedlichen Wissensbereichen.
Fritz B. Simon:Welche sind das?
Heinz Kersting: Das ist der Anthropologe Gregory Bateson, der Biologe Humberto Maturana, der Kybernetiker Heinz von Foerster, der Logiker George Spencer Brown und der Soziologe Niklas Luhman. Gibt es ein verbindendes Element zwischen diesen Wissenschaftlern bzw. Wissenschaften?
Fritz B. Simon: Ich war mir nicht bewußt, daß es diese fünf Wissenschaftler sind, aber jetzt, wo Sie das sagen, stimme ich zu. Die Gemeinsamkeit sehe ich in der Fragestellung, mit der sie sich beschäftigen. Sie fragen nämlich alle: Wie sind Prozesse organisiert, so daß Einheiten entstehen.
Gregory Bateson, war sicher der erste und daher Wichtigste für mich. Er hat mit seiner Definition, daß Information, „ein Unterschied ist, der einen Unterschied macht“, die Idee der Unterscheidung eingeführt. Wo ein Unterschied gemacht wird, wird etwas vom Rest der Welt abgegrenzt.
Das ist im Prinzip dasselbe, was dann George Spencer Brown auch sagt. Er sagt: „Draw a distinction!“, zu Deutsch: „Mache eine Unterscheidung!“ Dies ist als die Grundoperation für die Entstehung aller Formen zu verstehen. D.h. es wird eine Unterscheidung gemacht, es wird eine Grenze gezogen zwischen einem Bereich „innen“ und einem Bereich „außen“. Mit dieser Unterscheidung wirde ich die Entstehung von Objekten, so wie es Spencer Brown sieht, beschrieben. Er sagt, es sei, als ob man auf einem zweidimensionalen Blatt Papier oder einer Tafel einen Kreis zeichnet. Das ist es, was einem beim Vollziehen von Unterscheidungen passiert.
Wenn man in einem dreidimensionalen Raum eine Unterscheidung vornimmt, d.h. eine Grenze zieht, so kreiert man ein Objekt. Das ist das, was Maturana auf biologischer Ebene betrachtet: Welches sind die Operationen, die dazu führen, daß eine lebende Unterscheidung, sprich: ein Organismus, entsteht und aufrecht erhalten wird? Das ist die ganze Idee der Autopoiese – nicht mehr und nicht weniger.
Sie sagt eigentlich nur etwas darüber aus, wie lebende Unterscheidungen (lebende Systeme, Organismen) entstehen und wie sie aufrecht erhalten werden.
Heinz Kersting: Bei einer Zelle z.B…
Fritz B. Simon: …bei einer Zelle z.B., ergibt sich die Frage, wie sie sich vom Rest der Welt abgrenzt. Heinz von Foerster betrachtet das auf formalisierter Ebene. Er betrachtet, welches die Eigenwerte sind. Wie entstehen sie , wie vollzieht sich der selbtsreferentielle Prozeß? Und was führt schließlich dazu , daß ein Ergebnis sich nicht verändert, sondern statisch bleibt? Wie also wird eine Unterscheidung stabilisiert, und wie geschieht es , daß irgendein Phänomomen am Anfang und am Ende eines Prozesses dem Beobachgter als mit sich identisch erscheint?.
Niklas Luhman betrachtet das auf der Ebene sozialer Systeme. Wie unterscheiden sich soziale Systeme untereinander, z.B. das Rechtssystem vom Wissenschaftssystemen?
Es geht also eigentlich überall um dasselbe. Es ist, wie mir scheint, eine einzige Idee, die alle fünf Wissenschaftler von jeweils einer anderen Seite her beleuchten. Das Spannende ist für mich zu beobachten, wie der Prozeß, der Einheiten entstehen und stabil werden läßt, organisiert ist. Das ist für mich die systemische Grundfrage.
Heinz Kersting: Wie sind Sie eigentlich mit diesen Theorien bekannt geworden?
Fritz B. Simon: Das kann ich Ihnen genau sagen. Wahrscheinlich könnte ich das sogar auf den Tag festlegen. Ich habe nach meinem Studium in einer psychiatrischen Klinik als Assistenzarzt gearbeitet. Damals 1974/75, in der Nach-68er-Zeit, gab es die Sozialpsychiatriebewegung. Ich habe damals zusammen mit einigen Kolleginnen (ohne großes I) versucht, eine Station nach dem Modell der therapeutischen Gemeinschaft aufzubauen.
Heinz Kersting: So wie in Italien?
Fritz B. Simon: Eher so wie Maxwell Jones es mit der Demokratisierung der Psychiatrie, z.B. durch die gemeinsame Entscheidungsfindung in Stationsversammlungen, an denen Patienten und Tehrapeuten teilnahmen, versuchte. Das war natürlich toll, weil wir viel experimentieren konnten und viel Freiraum hatten. Die Klinikleitung, der ich heute noch für das Vertrauen und die Chance, das uns gewährt wurde, dankbar bin, gab uns nahezu alles , was wir wollten – angefangen vom Personal bis hin zur finanziellen Ausstattung. Trotzdem entwicklte sich das Ganze irgendwie schräg.
Wir hatten damals sehr viele Sozialpädagogen als Praktikanten auf den Stationen. Das war sehr hilfreich, weil die nämlich immer fragten: „Was macht Ihr hier eigentlich für’n ‘Scheiß’? Das ist doch alles pseudodemokratisch!“
Heinz Kersting: Was kam Ihnen schräg vor?
Fritz B. Simon: Die Kommunikation bei diesen „demokratischen“ Entscheidungen. Wir haben später einen Artikel über „Paradoxe Kommunikation in der therapeutischen Gemeinschaft“ geschrieben, in dem wir das alles analysiert haben. Zu Beginn unserer Arbeit hatten wir allerdings dieses Analyseinstrumentarium noch nicht. Erst späcter wurde uns bewußt, daß wir unseren Patienten paradoce Botschaften sandten wie: „Ihr entscheidet selbständig, aber Ihr müßt so entscheiden, wie wir es wollen, bzw. so, wie ich es als Stationsarzt brauche“. Wir haben immer irgendwelche Doppelbindungen gesetzt.
Vom Gefühl her war diese Kritik der Sozialpädagogen voll berechtigt. Außerdem passierte auf der Station sehr vieles, was ich einfach nicht verstanden habe. Es gab Eskalationen, und Leute flippten aus. Solange man versuchte, diese Phänomene individuumbezogen zu verstehen, war es nicht zu verstehen. Damals schenkte mir irgendwann eine gute Bekannte das Buch „Lösungen“ von Paul Watzlawick u.a. Als ich es etwa zur Hälfte gelesen hatte, fing ich an, anders zu arbeiten. Dann war mir klar: Das ist es! Dieser kommunikationstheoretische Ansatz ermöglichte mir auf einmal zu kapieren, was „los“ war. Wir fingen an, unsere eigene Situation auf der Station nach kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten zu analysieren. Daraus entstand der erwähnte Artikel über die paradoxe Kommunikation in der therapeutischen Gemeinschaft. Diesen Artikel hat irgendjemand dann Paul Watzlawick gegeben, wodurch wir mit ihm in Kontakt kamen. Wir begannen unsere Station nach kommunikationstheoretischen, heute würde man sagen: systemischen, Gesichtspunkten zu strukturieren. Paul war ganz begeistert und hat uns geschrieben, wir seien die einzigen weltweit, die das machten. Darüber waren wir sehr stolz. Zur Familie als zu betrachtender und behandelnder Einheit sind wir dann erst später gekommen.
Paul Watzlawick ist jemand, der Ideen gut verbreiten kann. Über ihn kommt man natürlich zwangsläufig zu Gregory Bateson, und insofern war diese Denklinie für mich vorgezeichnet.
Heinz Kersting: Und wie kamen Sie auf den Logiker George Spencer Brown?
Fritz B. Simon: Zu Spencer Brown bin ich auch über Paul Watzlawick gekommen. Ich hatte einen Artikel in der Zeitschrift „Psyche“ veröffentlicht, der sich mit Ideen und Gedanken zu Unterscheidungen beschäftigte, allerdings in einem eher psychoanalytischen Kontext. Wenn Sie ihn lesen, werden Sie sehen, daß da lauter Kreise gezeichnet sind. Es sind Unterscheidungen dargestellt. Das lag in meiner Denklinie. Paul Watzlawick hat mir daraufhin irgendwann einmal etwas von Spencer Brown erzählt, worauf ich versuchte, mir dessen Buch zu beschaffen. Das war damals gar nicht so einfach. In einer New Yorker Buchhandlung sagte man mir: „Wir müssen es haben, aber wir finden es nicht“. Ich habe es dann in deren Lager gesucht und gefunden. Dieses Buch mußte ich als einziges in meinem bisherigen Leben sieben oder achtmal lesen, ehe ich das Gefühl hatte, ein bißchen davon zu verstehen. Ich bin mir sicher, daß ich auch jetzt noch nicht alles verstanden habe, aber immerhin (vielleicht) doch einiges. Das, was daran nützlich war, habe ich herausgeklaubt und mir vielleicht auch umgedeutet.
Heinz Kersting: Heinz von Foerster liegt dann schon sehr nahe.
Fritz B. Simon: Zusammen mit Heinz von Foerster und Paul Watzlawick habe ich von 1985 an regelmäßig in Palo Alto Seminare gegeben. Bei unserem ersten vierzehntägigen Blockkurs habe ich mich natürlich sofort in Heinz verliebt – nicht nur wegen seines unwiderstehlichen Charmes, sondern auch wegen seines ästhetisch so befriedigenden Theorieansatzes.
Heinz Kersting: Und wie sind sie mit den Gedanken Maturanas vertraut geworden?
Fritz B. Simon: Ich habe hier in Hiedelberg 1986 eine Tagung mit dem Titel „Lebende Systeme“ zusammen mit Maturanas Kollegen Francisco Varela, mit Niklas Luhmann und Heinz von Foerster organisiert. Das war relativ früh, das ist jetzt schon über zehn Jahre her.
Heinz Kersting: Es ist sehr interessant, wie es Ihnen immer wieder gelingt, so viele bedeutende Wissenschaftler zu Kongressen zusammen zu bringen.
Fritz B. Simon: Ich glaube, wir haben Heidelberg auf unserer Seite. Heidelberg besitzt großen touristischen Wert. Viele Leute aus aller Welt kommen gerne nach Heidelberg, unabhängig davon, wer sie einlädt. Das ist ein wichtiger Standortvorteil, den man nicht unterschätzen sollte.
Es gibt aber ja verschiedene Gründe, warum jemand eine Einladung zu einem Kongress annimmt. Entweder es ist der attraktive Ort , oder es sind die attraktiven Leute, die ebenfalls eingeladen worden sind. Vielleicht lassen sie sich auch bestechen. Das versuchen wir selbstverständlich auch gelegentlich. Außerdem bemühen wir uns natürlich, attraktive und spannende Programme zusammenzustellen, damit die Leute kommen.
Heinz Kersting: Sie haben eben schon angedeutet, welche Bedeutung diese Theorien damals für Ihre praktische Arbeiten in der Klinik hatten. Können Sie darüber noch ein bißchen mehr erzählen.
Fritz B. Simon: Zunächst war die kommmunikationstheoretische Seite stärker in meinem Blick als die differenztheoretische Seite. Wenn man aber erst einmal anfängt, an diesem Faden zu ziehen, dann dröselt sich der ganze Pullover wie von selbst auf, und man landet sehr schnell bei erkenntnistheoretischen Fragen und den philosophischen Grundlagen. Sehr spannend ist, daß im Psychotherapiebereich vor allem Familientherapeuten solche Fragen stellen. Das finde ich schon sehr auffällig. Ich glaube, wenn man Kommunikationsprozesse betrachtet, dann landet man bei der Differenztheorie.
Auf der Ebene der klinischen Praxis ist es heute für mich schwierig zu sagen, was die wichtigste Wirkung war. Bislang habe ich das noch nicht so systematisch reflektiert. Aber so ganz spontan würde ich sagen, daß ich im therapeutischen Alltag mehr zwischen Absicht und Wirkung unterschieden habe und unterscheide.
Ich habe nicht mehr damit gerechnet, daß meine gute Absicht auch schon garantiert, daß eine gute Wirkung damit erzielt wird. Daher habe ich das, was ich getan habe, nicht mehr durch meine Absichten legitimiert – frei nach dem Motto: „Ich hab’s ja nur gut gemeint“ – und daraus die Legitimation dafür gezogen, irgendjemandem Psychopharmaka zu verordnen. Stattdessen habe ich sehr viel mehr auf das geguckt, was ich tatsächlich tue und wie es bei meinen Patienten und ihren Angehörigen ankommen könnte und interpretiert werden könnte. Ich habe also sehr viel mehr auf Bedeutungsgebungen im zwischenmenschlichen Umgang geschaut.
Heinz Kersting: Sie zitieren manchmal Thomas S. Kuhn. Ist Kuhn für Sie ein „wissenschaftlicher Revolutionär“?
Fritz B. Simon: Ich denke schon. Deswegen wird er auch angefeindet. Wenn er darstellt, daß sich Paradigmen wandeln, so stellt er die Annahme einer unveränderlichen, objektiven Wahrheit in Frage. Und der systemische Ansatz ist eben auch solch ein neues und alternatives Paradigma.
Obwohl ich Systemiker nicht für Missioniere halte, die versuchen Ihre Ideen zu transportieren oder zu verbreiten, werden sie daher angefeindet. Mit einem bestimmten Paradigma sind eben auch gewisse Interessen, z.B. Macht, Geld und ähnliches, verbunden. Wenn man ein neues Paradigma propagiert, dann stellt man alte Strukturen in Frage. Das ist ein radikaler Wechsel, daher paßt der Begriff Revolution. Das systemische Paradigma stellt das Selbst- und Rollenverständnis der Psychotherapeuten , Psychiater und Psychosomatiker in Frage. Ich denke, es ist an der Zeit, solche Hinterfragungen vorzunehmen, weil gegenwärtig die Psychosomatik vollkommen im Argen liegt. Man muß sehen, daß in den letzten 50 Jahren in diesem Bereich nichts wesentlich Neues passiert ist. Man braucht sich nur die deutschen Universitätspsychosomatiken anzuschauen, um zu sehen, wie tot dieses Feld ist. Aber auch für die Psychiater müßte man eine Sammlung veranstalten. Dabei sollte nicht Geld, sondern Ideen gesammelt werden. Sie ist ein Jammertal , das ganz in die Hände der Biologen geraten ist. Ich glaube nicht, daß ihr das gut tut. Unter wissenschaftlichen Aspekten bedeutet das eine enorme Einengung. Psyche auf Biologie reduzieren zu wollen, das ist schlicht und einfach dumm. Da ist eine Revolution längst überfällig, und ich denke, sie wird von ganz alleine kommen.
Man sucht schon seit 150 Jahren in der Psychiatrie nach dem Schizococcus, ohne daß man ihn gefunden hätte. Jetzt werden wieder Millionen und Milliarden in biologische Forschungen gestopft, ohne daß bisher irgendwelche praxisrelevanten Ergebnisse herausgekommen sind.
Insofern kann man gelassen sein. Diese Revolution kommt früher oder später, aber sie kommt. Wahrscheinlich nicht als Revolution, sondern als Paradigmawechsel. Es handelt sich zwar um eine Revolution auf der Ideenebene, aber in der Praxis dauert es lange, bis sich neue Ideen verbreiten. Das ist wie die Durchseuchung mit dem Tuberkelbazillus: Irgendwann ist jeder resistent dagegen. Findet eine „Durchseuchung“ mit Ideen statt, ändert sich viel in der Praxis. Das kann man in der deutschen Psychiatrie in den letzten zehn Jahren sehr gut beobachten. In den psychiatrischen Kliniken ist bereits sehr viel systemisches Denken eingezogen.
Heinz Kersting: Die Ausbreitung systemischen Denkens bleibt ja nicht nur auf Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie beschränkt. Inzwischen befällt dieser Bazillus auch andere Wissenschaften.
Fritz B. Simon: Das stimmt. Die Psychiatrie ist eine sehr angepaßte Wissenschaft, und die Psychosomatik ist es noch mehr. In der Psychosomatik sind nicht nur die Patienten um Normalität bemüht, die Therapeuten sind es auch. Wenn im ganzen wissenschaftlichen Umfeld, von der Physik bis zur Soziologie, das systemische Modell zum Leitmodell wird, dann werden auch die „Psychofächer“ dieses Modell irgendwann übernehmen. Alleine schon, um nicht als Außenseiter dazustehen.
Ich persönlich bemühe mich, systemisch zu denken, weil es das intellektuell befriedigendste Modell ist, und nicht etwa, weil ich mich an einer Revolution beteiligen möchte.
Heinz Kersting: Würden Sie sich nicht als einen Revolutionär bezeichnen?
Fritz B. Simon: Ich glaube schon, daß manche Leute mich so bezeichnen würden. Aber ich bin ein ziemlich konservativ lebender Durchschnittsmensch und glaube, mir fehlt das Zeug zum Revolutionär. Ich versuche einfach , das zu tun, was mir sinnvoll erscheint, ohne revolutionären Anspruch. Das ist alles.
Heinz Kersting: Wenn Sie es ablehnen, ein Revolutionär zu sein, wie gehen Sie dann aber mit den Folgen um , die sich aus dem für Sie sinnvollen Handeln ergeben?
Fritz B. Simon: Es ist mir schon klar, daß ich die Folgen zu tragen habe. Wenn ich von irgend jemandem „verhauen“ werde, dem ich gar nichts getan habe, und den ich womöglich nicht einmal kenne, dann merke ich, daß mein Handeln offensichtlich doch verstörender oder perturbierender ist, als ich mir das vorstelle oder vorgestellt habe. Systemisches Handeln ist mir schon so in Fleisch und Blut übergegangen, daß es mir ganz normal erscheint und ich oft garnicht mitbekomme, wie „unmöglich“ die Positionen sind, die ich vertrete.
Heinz Kersting: Es würde mich sehr interessieren, was Ihrer Meinung nach einen Psychoanalytiker alter Schule von einem systemischen Therapeuten unterscheidet.
Fritz B. Simon: Ich habe selbst eine psychoanalytische Ausbildung erhalten und kann wirklich nichts Schlechtes über Psychoanalytiker sagen, vor allem da, wo ich sie selbst als meine Analytiker erlebt habe. Ich glaube, daß auch für Systemiker vieles, was die Haltung der Analytiker und die technischen Grundlagen der Psychoanalyse betrifft, sinnvoll ist und gilt. Das gilt z.B. für die Frage der Abstinenz oder Neutralität, je nachdem, wie man diese Begriffe interpretiert. Ich denke, um es einmal platt und sehr vereinfachend zu sagen, daß kein Therapeut einen Gewinn aus der Beziehung zu seinen Patienten ziehen sollte, – außer der professionellen Befriedigung und der finanziellen Abrechnung natürlich, – weil sonst die Beziehung quer geht, und schwer zu trennen ist, wer was von wem will. Was die „Ausbeutung“ von Patienten angeht, gibt es hier meines Erachtens eine gemeinsame ethische Positionen.
Ich sehe den Hauptunterschied zwischen Psychoanalytikern und Systemikern darin, daß Analytiker immer irgndwie noch auf der Suche nach der Wahrheit sind, auf der Suche nach dem, was „wirklich“ in der Kindheit geschehen ist. Er sucht nach der „richtigen“ Deutung.
Systemiker deuten auch, aber sie sagen: „Wir deuten um“. Hinter dieser Überzeugung steht nicht mehr die Idee, daß man die richtige Deutung findet, sondern eine „wirksame“ Deutung. Insofern könnte es genau dasselbe sein, was beide tun, nur wie sie es interpretieren, ist unterschiedlich. Der Analytiker sagt: „Ich sage Dir, was wirklich zwischen Dir und Deiner Mutter geschehen ist“; der Systemiker sagt: „Ich habe Dir eine mögliche Deutung gegeben, die es Dir erlaubt, eine neue Geschichte zu konstruieren und die alte neu zu sehen“. Das gestattet ihm, anders zu leben als zuvor.
Auf der faktischen Ebene können die beiden Deutungen identisch sein. Ich glaube allerdings, daß Analytiker ihre Überzeugung, die Wahrheit zu finden, beibehalten. Systemisch betrachtet, intervenieren sie wenig und vorsichtig, sie bleiben in der passiven Rolle und versuchen, durch Deutungen zu verstören. Damit beschneiden sie ihre Möglichkeiten sehr. Hunderte von Stunden gehen dahin, in denen nicht über das geredet wird, was eigentlich beide interessiert.
Systemiker würden das mit ihren Patienten direkt ansprechen. Sie sind viel aktiver und geben auch Hausaufgaben. Auf diese Weise werden die Möglichkeiten, das Patientensystem zu verstören, von Systemikern sehr viel mehr und aktiver genutzt. Sie sind weniger ängstlich, haben mehr Zutrauen zum Patienten, zu dessen Ressourcen und zu dessen Selbstheilungstendenzen.
Die Analytiker hingegen, so glaube ich, bieten eine Beziehung an, in der nonverbal mitschwingt: „Ich bin o.k. und bei Dir müssen wir erst einmal nachgucken!“
Heinz Kersting: Sie sind jetzt zum Praktischen übergegangen, während Sie anfangs einen erkenntnistheoretischen Ansatz hinsichtlich des Unterscheidens angesprochen haben.
Fritz B. Simon: Das stimmt. Aber es hat weitreichende Folgen, ob ich der Meinung bin, daß ich mir ein Modell zusammenbastele , das die Phänomene erklärt, oder ob ich sage: „Mein Modell bildet die Wahrheit ab.“ Wenn ich sage: „Es ist nur ein Modell“, dann ist es verhandelbar. Ich kann es verwerfen und mir ein neues suchen. Wenn ich sage: „Mein Modell ist wahr“, gerate ich leicht in einen Kampf mit meinem Klienten darüber, wer von uns recht hat. Dann mache ich das, was im Klientensystem sowieso schon häufig passiert. Ich beteilige mich an einem Kampf, wer die Wahrheit verwaltet.
Mein Eindruck ist, daß in vielen Familien Probleme gerade aus Kämpfen darüber entstehen, wer die Wahrheit auf seiner Seite hat. Wenn ich mich als Therapeut auch noch daran beteilige, dann bringe ich nichts Neues in das System, sondern nur „Mehr desselben“. Das halte ich für fatal, und ich glaube, daß das Analytikern gelegentlich passiert.
Heinz Kersting: Beziehen Sie sich damit auf Paul Watzlawick? Sie verwendeten gerade den Begriff „Mehr desselben“, der aus seinem Wortschatz stammt.
Fritz B. Simon: Ja, sicher. Das ist einer der Mechanismen, wie in Kommunikationssystemen Veränderung verhindert wird und manchmal auch Probleme eskalieren. Aber lassen Sie noch einmal auf die Psychoanalyse zurück kommen. Auch Freud hat schon viele konstruktivistische Ideen vertreten.. Denken Sie z.B. an seinen Artikel über „Konstruktionen in der Therapie“. Darin hat er wunderbare Beispiele von Umdeutungen gegeben. Zum Beispiel erklärt er, daß seiner Meinung nach die Psychoanalyse, wenn sie öffentlich wirksam geworden ist, eine ganze Reihe von Begriffen verändert haben wird. Um zu erklären, wie diese Wirkung zustande kommt, erzählt er ein wunderbares Beispiel: Wenn auf einer Einladung zu einem Picknick gedruckt stünde: „Wir bitten die verehrten Damen immer dann, wenn sie ein Bedürfnis drückt, zu sagen, sie gingen Blumen pflücken“, dann könnten die verehrten Damen, wenn sie ein Bdürfnis drückt, diese Metapher nicht mehr so ohne weiteres benutzen. Freud führt später aus, daß das die Wirkung des Offenlegens der Psychoanalyse sei.
Auf ähnliche Weise wirken natürlich auch die Verschreibungen in der systemischen Therapie. In Freuds frühen Schriften sind viele seiner Ansichten konstruktivistisch, allerdings benutzt er zum Teil noch die alten mechanistischen Energiemetaphern. Das kann man ihm nicht vorwerfen, weil das damals das führende Modell war.
Heinz Kersting: Da unser Projekt sich mit kybernetischen Ansätzen beschäftigt, möchte ich Sie fragen, auf welche Weise das Modell der Kybernetik für die systemische Therapie brauchbar ist?
Fritz B. Simon: Es ist nicht nur brauchbar, es ist elementar. Als Therapeut sehe ich ein Klientensystem immer nur als Teil des therapeutischen Systems, zu dem ja auch meine Kommunikationen gehören. Das heißt, ich stecke gewissermaßen in einer Situation, in der ich die selbst versteckten Ostereier finde. Das ist die Basis jeder Therapie. Ich muß mir darüber im Klaren sein: Ich sitze nie auf der Tribüne, sondern ich spiele immer mit. Wie bei einem Fußballspiel komme ich als Mitspieler zu ganz anderen Überlegungen als der Beobachter auf der Tribüne. Ich muß strategisch denken. Das sind praktische Überlegungen, die nicht von einer klaren Subjekt-Objekt-Trennung ausgehen können, da man gewissermaßen Teil dessen ist, was man beobachtet. Man trägt selbst dazu bei, daß die Therapiesitzung so verläuft, wie sie verläuft.
Heinz Kersting: Warum ist es so wichtig, daß der Beobachter selbst Teil des beobachteten Systems ist?
Fritz B. Simon: Weil er sonst keine Modelle für die mögliche Wirkungen seiner Handlungen entwickeln kann. Es geht für mich als Therapeuten darum herauszufinden, was meinen Job sinnvoll oder unsinnig macht. Ich muß meine Erfahrungen sortieren und auswerten können. Wenn ich bei 20 Familien jeweils dieselbe Symptomatik bearbeite, dann ist zwar jede Familie verschieden, aber, wenn sie Symptome produzieren, die ich als Beobachter alss ähnlich erachte, dann ist es sehr spannend zu gucken, ob es nicht auch Interaktions- und Kommunikationsmuster gibt, die irgendwie mit dieser Symptomproduktion zusammenhängen. Wenn dem so ist, dann gibt es vielleicht auch ähnliche Interventionsmöglichkeiten und ich brauche nicht immer wieder bei Null anzufangen und das Rad neu zu erfinden. Wenn ich kein selbstrefentielles Modell besitze, dann kann ich nicht lernen, keine Erfahrungen sammeln und auch keine Techniken entwickeln. Diese Techniken sind zwar nicht mechanisch, aber sie sollen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit sicherstellen, daß ich etwas Sinnvolles tue.
Ich könnte keine Interventionen entwickeln und bliebe im Beliebigen. Ich brauche ein Modell, das mich und meine Aktionen systematisch in Beziehung setzt zu dem, was passiert. Ich muß also auf das System schauen, zu dem ich selber gehöre und zu dem ich durch meine Aktion oder Kommunikation beitrage.
Heinz Kersting: Wird auf diese Weise der Therapeut selbst zu einem Teil des zu behandelnden Systems?
Fritz B. Simon: Ja und nein. Er wird nicht Teil der Familie, aber er ist immer Teil des therapeutischen Systems. Darüber muß man sich im Klaren sein. Ich glaube, es gibt Unterschiede. Wenn ich mit einer Familie oder einer Organisation arbeite, dann muß ich sehr genau gucken, welche Funktionen ich in der Kooperation übernehme. Ich verhindere eventuell durch die Übernahme von Funktionen, daß diese Funktionen vom System selbst übernommen werden. Es ist wichtig, daß der systemische Therapeut, so wie wir ihn in Heidelberg verstehen, Funktionen übernimmt. Durch die Einführung der Außenperspektive kann er Fragen stellen, die normalerweise im System nicht gestellt werden. Er kann eine Zukunftsorientierung einführen, wo bis dahin eine Vergangenheitsorientierung herrschte. Er kann eine Ressourcenorientierung einführen, wo sonst eine Pathologieorientierung die Regel ist usw. Auf diese Weise finden Interventionen auf der Ebene der Wirklichkeitskonstruktion statt.
Heinz Kersting: Wenn ich nochmal zurück zum Begriff der Kybernetik 2. Ordnung gehen darf, wäre dann der Therapeut so etwas, wie der fiktive Beobachter 2. Ordnung in einem solchen System?
Fritz B. Simon: Kybernetik 2. Ordnung heißt: Ich gucke mir das System Beobachter plus beobachtetes System an. In der Kybernetik 1. Ordnung hat man die alte Subjekt-Objekt-Spaltung Man nannte das Objekt System und ging davon aus, daß durch die Beobachtung keine Wirkung auf das System ausgeübt wird. Auf diese Art haben am Anfang auch Familientherapeuten die Familien betrachtet. Die Mailänder Kollegen befanden sich mit ihrem Interventionskonzept von „Paradox und Gegenparadox“ noch auf dieser Stufe.
Wenn ich den Beobachter mit einbeziehe und das System als beobachtetes System plus Beobachter verstehe, dann befinde ich mich auf der Ebene der Kybernetik 2. Ordnung. Ich kann jetzt natürlich noch eine Stufe weitergehen und dieses System wieder von außen durch einen Einwegspiegel beobachten lassen usw. In dieser Art der direkten Supervision kann ich immer noch einen weiteren Beobachter einführen. Die Frage ist, wieviele zusätzlich eingeführte Beobachter sind noch sinnvoll? Das ist eine praktische Frage. Aber das Entscheidende ist, – und hier können wir eine Brücke zur Psychoanalyse schlagen -, die Beziehung zwischen Therapeut und Patient genau zu betrachten. Der Unterschied zur Psychoanalyse ist, daß sie immer noch versucht, das Geschehen dem Patienten ursächlich zuzuschreiben, was man aus systemischer Sicht nicht tun würde. Die Einbeziehung des Therapeuten als Beobachter, ist für mich der Schritt zur Kybernetik 2. Ordnung.
Heinz Kersting: Muß sich der Therapeut einreden, daß er gespalten ist in Akteur und Beobachter?
Fritz B. Simon: Ja, aber das macht man doch sowieso dauernd. Ich glaube persönlich, daß nur gespaltene Menschen in der Lage sind, sozial unauffällig, sprich „gesund“, zu leben. Nur wenn man verschiedene Perspektiven und verschiedene Kontexte trennen kann, kann man unbeschadet überleben. Das ist eine Frage der Funktionalität.
Daher muß auch der Therapeut in der Lage sein, sich selbst und das Klientensystem von außen zu betrachten. Er muß sich selber supervidieren können und hinter eine imaginäre Einwegscheibe gehen, um zu beobachten, was zwischen ihm und den Leuten passiert. Er muß sich immer fragen: Wie habe ich es geschafft, daß meine Patienten oder meine Klienten sich jetzt gerade so verhalten, wie sie sich verhalten?
Heinz Kersting: Sie haben geschrieben, daß die Einwegscheibe eine ganz sensationelle Erfindung gewesen sei.
Fritz B. Simon: Ich glaube, daß die Einführung der Einwegscheibe tatsächlich eine Revolution war, allerdings eine dieser schleichenden Revolutionen. Therapie war nämlich bis dato ein geschützter Raum, in den keiner Einblick nehmen konnte. Ich halte das für etwas hoch Problematisches. Die verständliche Grundidee für diesen Schutzraum war, daß nur aus einer Vertrauensbeziehung heraus die Möglichkeit erwächst, über Intimes zu sprechen. Andererseits ist damit natürlich eine prinzipielle Ungleichheit in der Beziehung zwischen Therapeut und Patient vorgegeben. Nach dem Motto: Der eine ist der Leidende, der andere ist der Experte. Was immer zwischen den beiden passiert, kreieren aber beide gemeinsam. Wenn nun der Patient auf einmal Probleme mit dem Therapeuten bekommt, hat er in der Auseinandersetzung keine Chance, weil der Therapeut ihm all das, was er erlebt, als Ausdruck und Folge seines Problems deuten kann.
Diesen Raum für Beobachter durch die Einwegscheibe zu öffnen, ist revolutionär. Nun gibt es auf einmal einen Dritten, und die Macht des Therapeuten ist gebrochen. Der Dritte kann sagen: „Ich habe das auch so beobachtet, wie der Patient.“ Gelegentlich sagen Patienten zu uns: „Ich komme zu Ihnen, weil ich mich nicht einem Therapeuten ausliefern möchte. Bei Ihnen sitzt jemand hinter der Scheibe“. Auf einmal ist der Therapeut in einer Position, in der er sich beobachten lassen muß. Er erzählt nicht mehr nur in der Supervision, was er denkt, was der Supervisor hören will oder soll. Stattdessen kann direkt beobachtet werden, was er vielleicht gar nicht beobachtet wissen will und wo er seine blinden Flecken hat.
Es wird Öffentlichkeit hergestellt. Das halte ich wirklich für einen riesigen Schritt, weil dadurch die selbstherrliche Position der Therapeuten in Frage gestellt wird. Vor kurzem hat mich jemand gefragt, wer kümmert sich eigentlich um die Qualitätskontrolle in der sprechenden Medizin? Ich finde diese Frage sehr berechtigt, denn die sprechende Medizin kontrolliert niemand. Ich erinnere mich sehr gut an meine Unsicherheit in den ersten Jahren meiner psychiatrischen Tätigkeit, wenn ich mich mit einem Patienten in mein Zimmer zurückgezogen hatte, weil man all das, was ein Therapeut in dieser Situation können muß, auf der Universität nicht lernt. Das einzig Beruhigende für mich war immer die Tatsache, daß wenigstens keiner zuhörte oder zuschaute. Diese Beruhigung ist zwar ganz gut, um zu üben, aber langfristig sollte das nicht Basis der Beziehung sein.
Heinz Kersting: Wo ist die Einwegscheibe erfunden worden?
Fritz B. Simon: Ich hab keine Ahnung, wo sie erfunden worden ist. Aber ich weiß, daß sie in Palo Alto und Mailand schon sehr früh genutzt wurde. Für mich war das Revolutionäre daran, daß im Mailand ein Viererteam mit Familien arbeitete, von denen keiner eine Ahnung hatte, wie man zusammen mit Familien arbeitete. Alle waren erfahrene Einzeltherapeuten, aber keiner von ihnen hatte Erfahrung mit Familien. Diejenigen, die hinter der Scheibe zusahen, waren ganz klar die Supervisoren, denn sie beobachteten nicht unter dem Aspekt, machen die Therapeuten es richtig oder falsch, sondern sie beobachteten genau, was zwischen Familien und Therapeuten passierte. Dadurch wurde deutlich, daß man in der Therapie etwas anderes erlebt, als das, was man von draußen beobachtet. Es wurde nicht mehr unter der Fragestellung „richtig“ oder „falsch“ diskutiert, sondern unter der Fragestellung, welche Unterschiede sich aus unterschiedlichen Beobachterperspektiven ergeben. Da dazu die Teams noch ihre Beobachterposition wechselten, bedeutete dies einen wirklicher Fortschritt.
Heinz Kersting: Worin sehen Sie den Unterschied zwischen systemischer Therapie und Supervision?
Fritz B. Simon: Ich sehe da keinen großen Unterschied. Es gibt zum systemischen Ansatz viele Alternativen, Therapie zu betreiben. Ich glaube aber, daß das, was in der systemischen Therapie passiert, analog dem ist, was in der Supervision geschieht. Vielleicht sollte man sagen, daß systemische Therapeuten eigentlich Supervision mit ihren Klientensystemen betreiben . Zumindest ist die Einführung der Außenperspektive ein wichtiger Bestandteil der systemischen Therapie. Einige andere Bestandteile der Therapie sind in der Supervision allerdings nicht üblich.
Wichtig ist mir bei diesem Blick aus der Außenperspektive der Unterschied zwischen Intention und Funktion des Verhaltens. Wenn ich die Außenperspektive einnehme, dann wird sehr deutlich, daß die Wirkungen meiner Handlungen häufig ganz anders sind als von mir beabsichtigt. Wenn das der Fall ist, dann brauche ich meine Absichten nicht zu ändern, sondern kann die Art und Weise, wie ich mich verhalte oder kommuniziere, verändern. Das heißt, ich gewinne neue Optionen. Im alltäglichen Verständnis wird Absicht oft mit Wirkung gleichgesetzt. Nach dem Motto, wenn ich will, daß mein Kind glücklich ist, dann ist all mein Tun auch richtig dafür, daß mein Kind glücklich wird. Aus dieser Überzeugung wird, wie Paul Watzlawick geschrieben hat, die Lösung zum Problem. Der Lösungsversuch kreiert nur zu oft ein Kommunikationsmuster, das genau das Problem am Leben erhält. Wenn dann die Außenperspektive eingeführt wird, zeigt sich sehr haüfig, daß die Beteiligten paradox intervenieren und durch die Art und Weise, wie sie sich verhalten, genau das Gegenteil von dem erreichen, was sie eigentlich wollen.
Die Einführung der Außenperspektive kann daher sehr viele Veränderungsoptionen freisetzen. Das ist in der Therapie genauso der Fall, wie in der Supervision. Bei manchen Therapeuten besteht die Gefahr, daß sie sehr viel Verantwortung für ihre Klienten oder Patienten übernehmen, der sie nie gerecht werden können. Die Klienten sitzen ja nicht ewig bei den Therapueten auf dem Sofa, sondern sie gehen nach Hause, und handeln so, wie sie handeln. Dafür kann kein Therapeut die Verantwortung übernehmen. Er kann nur in der Sitzung etwas tun, was vielleicht die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß die Patienten ihre Verantwortung anders wahrnehmen als vorher. In diesem Fall sehe ich überhaupt keinen Unterschied zu dem, was ein Supervisor tut.
Der Therapeut weiß ebenso wenig wie der Supervisor, was für eine Familie oder einen Patienten das Richtige ist. Er hat natürlich Erfahrungen, die er zu Verfügung stellen kann. Aber selbst wenn er eine Situation schon hundert Mal erlebt hat, weiß er nicht, ob es nicht beim hunderteinsten Mal anders funktioniert.
Für mich gehört zur Verantwortung von Supervisor und Therapeut, daß sie ihre Erfahrungen nutzen, aber nicht glauben, daß das der einzige Weg ist, und daß sie das auch kommunizieren. Das ist jedoch nicht der einzige Weg, therapeutisch zu arbeiten. Man kann auch Therapie machen, indem man sagt: „So ist es, und Du mußt das so machen, basta! Ich weiß es!“ Für manche Patienten mag das das Richtige sein. Jedes therapeutische Verfahren führt zu einer Selektion von Patienten und man erreicht damit nur eine begrenzte Anzahl von Patienten oder Klienten.
Heinz Kersting: Im Laufe der Geschichte hat sich die Sozialarbeit auch irgendwann einmal mit Rogers Theorien verschwistert und die empathische Beziehung als fast ursächlich und als eines der wichtigsten Kriterien für die helfende Beziehung gesehen. Studenten vermissen in der systemischen Therapie, so wie Sie sie auch in Ihren Schriften darstellen, oft genau diese Empathie.
Fritz B. Simon: Die Frage ist ja, was das Merkmal der Unterscheidung für Empathie ist. Woran merke ich, daß die emphatische Beziehung da ist? Wenn wir auf der Theorieebene über Emphatie reden, dann glaube ich schon, daß Emphatie die Voraussetzung für eine gute Therapie ist. In der Diskussion unter Therapeuten werden aber meist zwei unterschiedliche Sachen in einen Topf geschmissen. Die erste Frage ist: Wie definieren wir Emphatie? Ich weiß nicht, wie Sie diesen Begriff definieren, und ich erinnere mich jetzt auch nicht, wie Herr Rogers Emphatie definiert hat. Aber ich glaube, daß man Menschen nicht hundertprozentig verstehen kann. Ich persönlich glaube vielmehr, daß ein gewisses Einander-Nichtverstehen die Grundlage für das Funktionieren der menschlichen Gesellschaft ist. Wenn Menschen einander vollkommen verstünden, würden sie sich permanent den Schädel einschlagen, frei nach dem Motto: „Das ist dafür, was Du gerade schon wieder so über mich gedacht hast!“
Es gibt jedoch die Möglichkeit, ein gewisses Maß an Verstehen herbeizuführen, indem man sich in die Position des anderen hineinfühlt. Nehmen wir das einmal als Emphatie. Ich kann mir vorstellen, wie es einem anderen Menschen in diesem Kontext, in dieser Situation geht, weil ich als Mensch gewisse Ähnlichkeiten mit anderen Menschen habe. Wir haben die gleiche biologische Ausstattung, eine ähnliche Geschichte, ähnliche soziale Umstände usw. Das Hineinfühlen kann besser oder schlechter gelingen. Ich habe z.B. Familien in China interviewt, die uns Deutschen, zumindest, was die Familienbeziehungen angeht, sehr ähnlich sind. Hier gelingt Emphatie.
Die Frage ist, was mache ich dann? Wenn ich mich in einen anderen hineinversetze und ihm dann vors Schienbein trete, kann das sehr wohl Ausdruck von Emphatie sein. Ich kann sagen, diese Person ist jetzt in einer Situation, die ich sehr gut von mir kenne und in der ich dann in Selbtsmitleid ergehe. Die Folge meiner Emphatie wäre dann z.B., daß ich dieser Person irgendwo hintrete, wo es weh tut, damit sie empört und aggressiv wird. Ich glaube, Rogers war ein guter Therapeut und er hat viel systemisch Sinnvolles getan. Das Mißverständnis ist, daß man in Ausbildungen von Emphatie redet, daraus aber häufig pseudoverstehendes Gesülze entsteht, um es einmal bösartig auszudrücken. Daß ich Gefühle verbalisiere, kann sehr wohl hilfreich sein. Aber, das mit Emphatie gleichzusetzen und anzunehmen, es entstünde daraus eine emphatische Beziehung, ist problematisch. Ich glaube, die Beziehung ist etwas sehr wichtiges. Die Frage ist nur: Was sind die Merkmale der Unterscheidung dafür, ob es sich um eine tragfähige Beziehung handelt oder nicht? Und diese Merkmale sind halt relativ. Das ist ein sehr weicher Bereich. Emphatie halte ich in der Therapie für wichtig. Die entscheidende Frage ist aber, was man damit anfängt. Wir machen sicher viele Sachen, die Rogers nicht gemacht hätte, obwohl er ja auch sehr konfrontativ gewesen sein soll.
Heinz Kersting: Was würden Sie z.B. machen, was Rogers nicht gemacht hätte?
Fritz B. Simon: Ich weiß nicht, ob er paradoxe Aufträge gegeben oder Rituale verschrieben hätte. Rituale können, gerade von einer emphatischen Grundlage her, etwas sehr Sinnvolles sein. Die Frage ist wirklich, wie der Begriff ‘therapeutische Beziehung’ verwendet wird. Keiner weiß genau, was es ist. Es gibt keine objektivierbaren Merkmale der Unterscheidung dafür. Ich glaube, da lügen sich Therapeuten selbst viel in die Tasche. Sie konstruieren ein Bild, ohne auf der anderen Seite, beim Patienten, zu überprüfen, ob ihr Bild auch auf ein passendes Gegenbild stößt.
Heinz Kersting: Mir sagte letztens bei einer Prüfung eine Studentin: „Für mich ist die systemische Familientherapie eigentlich eine moderne Verhaltenstherapie.“
Fritz B. Simon: Ich streite mich immer mit einem meiner Kollegen hier in Heidelberg, weil ich von Haus aus zwar Systemiker bin, später dann aber auch Analytiker wurde. Ich finde vieles faszinierend an dem analytischen Modell. Mein Kollege hat das analog mit Verhaltenstherapie gemacht und interessiert sich heute mehr für ‘innere Welten’, während ich sehr viel mehr am Verhalten interessiert bin. Das ist irgendwie paradox. Ich glaube, die systemische Therapie bringt eigentlich das Beste aus beiden Welten zusammen, indem sie sich Verhalten sehr genau anschaut. Sie betrachtet aber nicht isoliertes Verhalten, sondern Verhalten im interaktionellen Kontext, was einen Schritt weiter ist. Denn die Interaktionspartner wirken nicht nur als Verstärker, sondern als Beteiligte an der Aufrechterhaltung von Mustern. Das verknüpft die Verhaltensebene mit der je individuellen Bedeutungsebene. Genau da sind wir bei dem, was Psychoanalytiker tun. Sie gucken sich Bedeutungen an. An der Stelle sehe ich etwas, was weiter geht als die kognitive Verhaltenstherapie. Und es gibt noch einen Unterschied: Aus einem Systemmodell heraus sind Konflikte wichtig, womit eine weitere Beziehung zur Psychoanalyse deutlich wird. Für Verhaltenstherapeuten sind Konflikte nicht sehr wichtig. Kombiniert man nun aus diesen beiden Therapien das Wichtigste, dann wird daraus – in aller Bescheidenheit – systemische Therapie.
Heinz Kersting: Macht es nicht ein Problem, wenn Sie von Maturana einen Begriff wie den der operationalen Geschlossenheit von Sytemen übernehmen?
Fritz B. Simon: Was ist das Problem daran?
Heinz Kersting: Für Studenten ist es z.B. sehr schwer sich vorzustellen, daß die Personen in einem Familiensystem ‘die Umwelt’ des Systems Familie sind.
Fritz B. Simon: Das ist ja auch antiintuitiv und natürlich nur ein theoretisches Konstrukt.
H.K.. Was bringt es an Gewinn?
Fritz B. Simon: Der Gewinn ist, daß man von der Idee Abschied nehmen kann, man müßte in der Therapie Personen verändern. Das ist eine große Erleichterung. Wenn ich das in Seminaren klarzumachen versuche, dann nutze ich die Schachspielmetapher. Die Schachspieler sind nicht Teil des Schachspiels, wenn ich sage, daß der Springer bestimmte Arten von Zügen macht. Wenn ich die Züge gleichsetze mit dem Symptom oder dem Problem, dann brauche ich, damit der Spieler diese Züge nicht mehr macht, nur die Spielregeln des Schachs zu verändern, – was beim Schach natürlich schwierig ist, weil es schon sehr lange so gespielt wird und es eigentlich ja auch keinen allzugroßen Leidensdruck bei den Beteiligten gibt. Im Prinzip gilt aber, daß ich die Spieler nicht zu ändern brauche, wenn ich die Spielzüge andern will. Und das erleichtert die Arbeit unheimlich. Wenn ich mit einer Organisation oder einer Familie arbeite und all diese Menschen ändern soll, habe ich mir eine Aufgabe zugedacht, der keiner gerecht werden kann. Zu sagen: „Die Personen können bleiben, wie sie wollen, sie müßten nur bestimmte Spielzüge ändern“, ist für alle Beteiligten sehr viel einfacher. Ich erspare mir als Therapeut so natürlich auch viel Arbeit; wenn es mir auf andere Weise gelingt, die Spielregeln zu verändern, muß ich mich gar nicht in erst die ganze Psychologie der Beteiligten hineinarbeiten,
Heinz Kersting: Und doch versuchen Sie, auf die Wirklichkeitskonstruktionen derjenigen Personen, die Spieler sind, Einfluß zu nehmen.
Fritz B. Simon: Ja, aber das steht nicht im Widerspruch zu der Sicht der Psyche als Umwelt des sozialen System. Das Spielen könnte natürlich nicht ohne die dazu nötige Umwelt, nämlich die Spieler, stattfinden. Wenn keiner Schach spielt, gibt es kein Schachspiel. Die Frage ist, wie kann ich jemanden dazu bringen, Schach zu spielen oder damit aufzuhören. Somit bin ich natürlich schon bei den Wirklichkeitskonstruktionen der Personen. Das ist jedoch eine andere Ebene, und die ist klar unterschieden. Das ist das Schöne bei diesen klaren Trennungen ist, daß ich mir Gedanken darüber machen kann, wie ich die Systeme ‘Biologie’, ‘Psyche’ und ‘Soziales’ zueinander in Beziehung setzen kann. Ich bin ein Gegner dieser multifaktoriellen ‘Alles-in-einen-Topf-Schmeißer’, die ‘biopsychosoziale’ Modelle aufstellen, in denen alles irgendwie mit allem zusammenhängt und sich nichts mehr operationalisieren läßt. Dabei bleibt letztlich alles im Unverbindlichen und Beliebigen. Deswegen finde ich das Konzept der operationalen Geschlossenheit von Systemen sehr gut. Ich kann mir darüber Gedanken machen, wie sie miteinander gekoppelt sind und auf welche Art ich sie stören kann, damit therapeutische Effekte erzielt werden.
Heinz Kersting: Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, daß es nützlich ist, Wirklichkeitskonstruktionen nach den Unterschiedungen ‘Beschreiben’, ‘Erklären’ und ‘Bewerten’ zu beobachten?
Fritz B. Simon: Das ist ein Gemeinschaftswerk. Ich habe in meinem Buch „Unterschiede, die Unterschiede machen“ über Erklärungen und Bewertungen geschrieben. Arnold Retzer hat dieses in seinem Buch „Familie und Psychose“ auf drei Ebenen noch einmal ganz klar formuliert. In unserem Diskussionsprozeß schien uns, daß diese Ebenen die drei entscheidenden Unterscheidungen sind. Das findet sich bereits in den Metalogen bei Bateson, wo er Instinkt oder Schwerkraft als Erklärungsprinzipien deutlich macht. Wichtig ist, daß es bei solchen Begriffen nicht um die Ebene der Phänomene geht.
Heinz Kersting: Als Sozialarbeiter fand ich es sehr bestätigend, daß Sie den Kontextbezug mitberücksichtigen, in denen die Klienten stehen.
Fritz B. Simon: Es ist nicht nur für einen Klienten wichtig zu erkennen, an welchen Kontext er angepaßt wird, sondern man muß sich auch als Sozialarbeiter oder Therapeut darüber im klaren sein, daß man in einem Kontext steht, der sehr wohl mitbestimmt, was man tun und lassen kann. Dieser Kontext limitiert den Freiheitsgrad des Helfers und definiert heimlich Arbeitsaufträge, von denen man oft gar nichts ahnt.
Heinz Kersting: Für einen Sozialarbeiter stellt sich das Problem, so glaube ich, schärfer als für einen systemischen Familientherapeuten, da er mehr Kontrollfunktionen innerhalb der Gesellschaft übernehmen muß.
Fritz B. Simon: Das gilt vielleicht für niedergelassene systemische Familientherapeuten, aber der Therapeut, der in einer Institution arbeitet, steckt in derselben Situation. Die Psychiatrie hat nicht nur die Funktion, dem Einzelnen zu helfen, sondern sie hat auch eine gesellschaftliche Funktion. Sie soll Berechenbarkeit herstellen und diese absichern. Zur Idee der Berechenbarkeit gehört, daß man Mitmenschen, die sich auf der Straße plötzlich irrational verhalten, aus dem Verkehr zieht. Institutionen üben generell Kontrollfunktionen aus. Für denjenigen, der in ihnen arbeitet, ist es dabei gleich, welcher Berufsgruppe er angehört.
Heinz Kersting: Kontrollfunktionen korrelieren mit Schuldzuweisungen. Haben Sie einen Rat an Ihre Kollegen oder an Sozialarbeiter, wie man mit dem Problem der Schuldzuweisung umgehen kann?
Fritz B. Simon: Ich glaube in jeder Familie, in der jemand psychisch erkrankt, ist die Schuldfrage zentral. Ich gehe mit der Frage immer offensiv um. Ich frage: „Was denken Sie, wer Schuld hat?“ Ich lasse mir die Erklärungsmodelle liefern und versuche, sie dann ad absurdum zu führen. Denn sie sind häufig ja wirklich absurd, z.B. wenn der Mutter die Schuld dafür gegeben wird, daß ihr Sohn heroinabhängig geworden ist: Weil sie ihm immer Butterbrote geschmiert hat, obwohl er keine haben wollte, die er aber dann doch gegessen hat. Es sind häufig ganz absurde Erklärungen, mit denen man Schuld konstruiert. Schuld kann man nicht beseitigen durch Verschweigen oder Tabuisieren, sondern einfach dadurch, daß man sie ad absurdum führt, indem man sich zum Beispiel genau erklären läßt, wie die Butterbrote zur Heroinabhängigkeit führen. Schuldzuweisungen sind immer reduktionistisch. Sie picken einzelne Faktoren heraus, die das vermeintliche Opfer in eine Position bringen, in der es nichts mehr tun kann. Unsere Strategie ist, genau hinzuschauen, wer wo wie Einfluß hat. Wir machen es so, daß wir immer allen Beteiligten die Schuld an allem geben, nicht nur an dem, was sie selber tun, sondern auch an dem, was die anderen tun. Beliebt sind bei uns hypothetische Fragen, wie z.B.: „Wie könnten Sie erreichen, daß genau das herauskommt, was Sie nicht wollen?“ Gewöhnlich folgt als Antwort: „Ich müßte ich mich nur normal verhalten, so wie immer.“ Wenn man von Schuld entlastet, so wie es manchmal die biologischen Psychiater tun, entsteht das Dilemma, daß die Menschen keine Einflußmöglichkeiten mehr haben. Wir haben die besten Erfahrungen damit gemacht, den Leuten zu sagen: „Ihr habt Einfluß. Ob Ihr ihn nutzt oder nicht, ist Eure Sache, aber Ihr habt Einfluß.“ Die Idee, daß man Einfluß hat, gibt viel Hoffnung. Menschen können aus Hoffnung sehr viel Energie ziehen. Hoffnung zu geben – ganz gleich in welcher Therapiemethode – ist der zentrale Punkt. Mein Eindruck ist, daß alle, die sich darum bemühen – aus den besten Motiven heraus – von Schuld zu entlasten, den Menschen ihre Hoffnung nehmen, weil sie die Schuld einer anonymen Kraft, genannt ‘psychische Krankheit’, zuweisen. Darauf können sie keinen Einfluß nehmen, weil das dann Sache der Experten ist. Man muß sich dem Experten, der dann irgendwelche Medikamente gibt, ausliefern, oder man muß abwarten, bis diese höhere Kraft, genannt ‘Krankheit’, sich verzieht. Auf letzteres ist wenig Verlaß.
Heinz Kersting: Wie kommt es, daß jemand, der sich gewöhnlich mit Verrücktheit befasst, sich mit Organisationsberatern zusammentut, die sich mit Ordnung beschäftigen, und ein Buch über Marktwirtschaft schreibt? Und darüber hinaus so ‘merkwürdige’ Themen wie Leitung, Planung und Führung behandelt?
Fritz B. Simon: Mich interessieren Institutionen und Organisationen. Das stammt vielleicht noch aus der Zeit, als ich in einem psychiatrischen Großkrankenhaus gearbeitet habe. Ein Großkrankenhaus ist wie ein Naturpark für Organisationsformen. Wenn Sie in eine solche Klinik gehen, finden Sie eine Vielfalt von Formen sozialer Systeme, angefangen von feudalistischen bis hin zu anomischen Systemen. Und das finde ich, allein aus systemischer Sicht, sehr spannend. Zu den Organisationsberatern und Mangementberatern bin ich auf einem ganz anderen Weg gekommen. Sie sind nämlich eigentlich zu mir gekommen und haben gesagt: „Was Ihr in der Familientherapie macht, scheint uns auch für unseren Bereich von Nutzen zu sein. Könnt Ihr uns das nicht beibringen?“ Irgendwann hat mich eine Gruppe solcher Managementberater eingeladen mit der Bitte, ich solle ein Seminar über Familientherapie machen. Kontakte hatte ich über die Gruppendynamik, da ich lange als Gruppendynamiktrainer gearbeitet habe. Dadurch traf man sich natürlich.
Ich habe dieses Seminar durchgeführt, und mein Eindruck war, daß diese Management- und Organisationsberater sehr viel bessere Familientherapeuten waren als meine psychotherapeutischen Kollegen. Sie dachten schon in Kategorien von Organisationen und sozialen Systemen, während die Therapeuten viel individuumbezogener orientiert waren. Aus diesem Seminar heraus ergab sich dann die Frage: „Kannst Du nicht unsere Arbeit supervidieren?“ Da ich ein neugieriger Mensch bin und mich schnell langweile, war ich angetan von der Idee, in einem neuen Bereich zu arbeiten. Daraus wurde dann immer mehr. Ich bin auch zu Beratungen eingeladen worden und heute genieße ich es sehr, in ganz verschiedene Institutionen hineinzugucken und so etwas wie ein Anthropologe unserer eigenen Gesellschaft sein zu können. Man kann z.B. sehen, wie der Stamm, den man Automobilindustrie nennt, organisiert ist. Dort herrscht eine ganz andere Kultur als in der chemischen Industrie. Gefängnisse sind wiederum ganz anders organisiert als Kliniken. Und selbst innerhalb Kliniken findet man sehr unterschiedliche Denkweisen. In gynäkologischen Kliniken z.B entstehen große Probleme zwischen denen, die die operativen Fächer haben und denen, die die Geburtshilfe machen. Geburtshelfer denken immer in nicht umkehrbaren Prozessen. Man schiebt Kinder einfach nicht zurück in den Mutterbauch.
Heinz Kersting: Sind Organisationen so etwas wie Familien?
Fritz B. Simon: Ich denke, es gibt große Unterschiede zwischen Organisationen und Familien, aber es gibt natürlich auch – auf einer sehr abstrakten Ebene – Gemeinsamkeiten. Beide funktionieren über Kommunikation. Sie entstehen durch Kommunikation und werden durch Kommunikation als Einheiten erhalten. Der prinzipielle Unterschied ist der, daß es sich in Organisationen um kündbare, in Familien dagegen um nicht kündbare Beziehungen handelt. Nicht kündbare Beziehungen haben andere affektive Wirkungen als kündbare. Wenn man sich aus einer Beziehung entfernen kann, ‘kochen’ die Gefühle nie so hoch. Deswegen wird man in Organisationen nicht verrückt, in Familien schon. Und deswegen werden Theaterstücke auch nicht über Aufsichtsratsitzungen geschrieben, sondern über Familien! Es gibt keine Theaterstücke über Wirtschaft, sondern es sind immer Familiengeschichten. Vom Affekt her gibt es da einen großen Unterschied. Ich muß sagen, auf dieser Ebene betrachtet, scheinen mir Familien sehr viel spannender als Organisationen.
Heinz Kersting: Bei Organisationen ist der Unterschied zwischen einem sozialen System und einem personalen System sehr viel klarer.
Fritz B. Simon: Ja.
Heinz Kersting: Würden Sie alles aus der allgemeinen Systemtheorie von Luhmann übernehmen?
Fritz B. Simon: Das wichtigste, was ich von Luhmann übernommen habe, oder was wir in Heidelberg übernommen haben, ist die Orientierung an der Unterscheidung zwischen System und Umwelt. Die Psyche zur Umwelt des sozialen Systems zu machen, ist eine Sache, die von Luhmann kommt. Ansonsten denke ich, sind Parallelen zwar sicher nicht ganz zufällig, aber auf jeden Fall nicht systematisch geplant oder übernommen. Es ist ja so, daß Luhmann sich auf George Spencer Brown, Heinz von Foerster und Humberto Maturana bezieht. Wir haben das auch getan, und ohne zu wissen, daß Luhmann es getan hat, sind wir so zwangsläufig zusammen gekommen.
Ich muß gestehen, daß ich Luhmann erst verstehe, seitdem er sichauf diese Ansaätze bezieht (oder auch: seitdem wir uns auf sie beziehen). Vorher habe ich immer nur mal ein Fitzelchen verstanden. Erst seitdem er das denkt, was wir denken oder umgekehrt, verstehe ich ihn. Ich glaube, Luhmann kann man nur verstehen, wenn man sowieso schon meint, was er meint. Es gibt natürlich inzwischen viel, was ich Luhmann verdanke, weil er jemand ist, der Sachen zu Ende denkt und auf Details schaut, die man normalerweise nicht genauer betrachtet. Er ist ungemein gebildet, weiß sensationell viel und besitzt einen unerschöpflichen Zettelkasten. Wir benutzen häufigt eine andere Terminologie als die Soziologen. Das macht einen Unterschied. Ich glaube hier liegt auch der Unterschiede zwischen Luhmann und Maturana. Mir geht es um die Frage, was ist das Entscheidende am Leben. Soziale Systeme sind für mich lebende Systeme.
Heinz Kersting: Und Organisationen?
Fritz B. Simon: Organisationen sind auch lebende Systeme, denn sie setzen Leben voraus. Luhmann würde wahrscheinlich von autopoietischen Systeme oder operational geschlossenen Systemen sprechen. Gemeinsam haben diese Systeme, daß sie ihre Stabilität aufgrund von Lebensprozessen erhalten. Das ist die Gemeinsamkeit, die biologische, psychische uns soziale System verbindet.
Heinz Kersting: Wie sind psychische und soziale Systeme miteinander gekoppelt?
Fritz B. Simon: Das ist einer der interessantesten Punkte. Ich denke, sie sind über Kommunikation gekoppelt. Psychische Systeme und soziale Systeme werden dadurch miteinander verknüpft, daß sie mit Sprache und anderen, übereinstimmenden Zeichensystemen operieren.
Heinz Kersting: Luhmann unterscheidet zwischen sozialen Systemen, die auf der Basis von Kommunikation operieren und psychischen Systemen, die auf der Basis von Bewußtsein operieren.
Fritz B. Simon: Bei dieser Unterscheidung gehe ich nicht ganz mit. Bewußtsein ist ein problematischer Begriff. Wie definiert man Bewußtsein? Ich bin als Therapeut auch nicht nur an Kommunikation interessiert. Wenn man sich z.B. eine Familie anschaut, dann stellt sich die Frage, wie jemand in dieses Kommunikationssystem hineinwächst. Für jemanden, der sich erst in dieses System hineinfinden muß, handelt es sich noch nicht unbedingt um ein Kommunikationssystem. Die spannende Frage ist, wie aus Interaktion Kommunikation wird? Es kommt zu einer Koppelung zwischen gemeinsam beobachteten Phänomenen und teilweise nicht gemeinsam beobachteten Phänomenen. Über gemeinsam beobachtete Phänomene kann kommuniziert werden. So entsteht ein gemeinsames Thema. Das ist das, was als strukturelle Koppelung beschrieben werden kann. Worum handelt es sich aber, bevor der gemweinsame Code entstanden ist? Psychische Systeme sind für mich Systeme, die nur einem exklusiven Beobachter zugänglich sind, nämlich ihrem Besitzer selber. Psychische Systeme sind immer nur der Selbstbeobachtung zugänglich. Wenn ich nun zur Beschreibung dieser selbstbeobachteten Phänomene das Medium Sprache verwende, werden psychische Phänomene kommunizierbar. Im Prinzip sind psychische Systeme jedoch nicht der Fremdbeobachtung zugänglich.
Heinz Kersting: Liegt möglicherweise der Unterschied zwischen Luhmann und Ihnen auch darin, daß Soziologen damit beschäftigt sind, bestehende Systeme zu beobachten, während Sie damit beschäftigt sind, die Interaktionen zu beobachten, die zum Entstehen eines Systems führen?
Fritz B. Simon: Da würde ich Ihnen zustimmen. Mein Eindruck ist, daß Luhmann sich über die Genese von Systemen nicht so viele Gedanken macht. Er hat genug damit zu tun, die Gesellschaft in ihrem Ist-Zustand zu analysieren. Für mich als Therapeut ist die Entstehung von Strukturen viel spannender, weil ich mit Veränderungen beschäftigt bin. Als Therapeut bekommt man den Auftrag zu verändern. Es werden hunderttausend Bücher über Veränderung im therapeutischen Bereich geschrieben und deshalb, glaube ich, ist es für uns so wichtig anzuschauen, wie Strukturen entstehen und wie man sie verändern kann. Die Systemtheorie hilft uns Modelle darüber zu entwickeln, wie Systeme ihre Stabilität gewinnen und aufrecht erhalten. Das ist bisher in der therapeutischen Literatur zu kurz gekommen. Das Modell der operationalen Geschlossenheit ist als Erklärungsansatz dabei sehr brauchbar. Luhmann hat kein Praxisfeld. Er möchte lediglich ein Modell liefern. Und wenn ich ihn richtig verstehe, hat er auch nicht den Anspruch, daß man aus seiner Theorie irgendeine praktische Konsequenz zieht. Ich glaube, daß sie welche hat, aber dies ist nicht sein vorderstes Interesse. Mein Theorieverständnis ist hingegen, daß eine Theorie nur dann etwas taugt, wenn man aus ihr Handlungsanweisungen ableiten kann. Es handelt sich da wahrscheinlich um ein etwas anderes Theorieverständnis.
Heinz Kersting: Kann man ein guter Therapeut sein ohne Theorie?
Fritz B. Simon: Man kann sowohl ein guter Sozialarbeiter als auch ein guter Therapeut sein ohne Theorie. Man muß allerdings wissen, was man wann zu tun hat. Solange man im richtigen Moment das Richtige tut, braucht man keine Theorie. Das Problem ist, daß die meisten Leute eine Theorie brauchen, um das Richtige zu tun. Dazu gehöre ich auch. Theorien sind in diesem Sinne nur ein mehr oder weniger nützliches Handwerkszeug.
Heinz Kersting: Vielen Dank für dieses schöne Gespräch.